Der Ausdruck Regietheater ist einigermaßen etabliert in der Bedeutung “Inszenierung eines Werks, der es weniger auf Werktreue als auf Ideen des Regisseurs ankommt”. Die Rede ist von Aufführungen von Theaterstücken und Opern, in denen einige oder alle der folgenden Komponenten in einer Form erscheinen, die nicht im Textbuch (des Schriftstellers, Librettisten oder Komponisten) steht:
- Ort und Zeit der Handlung
- im Zusammenhang damit Kulissen, Kostüme und Requisiten
- Text und Handlung.
Es kann sich darum handeln, daß solche Komponenten zu der Vorlage hinzutreten oder daß sie die vom Urheber vorgesehenen ersetzen. Die Änderung der genannten Komponenten ist nicht rein oberflächlich und vom Regisseur auch nicht so gemeint. Vielmehr steht sie für eine andersartige Auffassung vom Sinn des Werks.
Hier ein Beispiel für viele: “Ein Maskenball” von Verdi spielt laut Libretto Ende des 18. Jh. im us-amerikanischen Boston. Die Idee ist, daß ein Graf, gegen den ohnehin schon eine Verschwörung läuft, schließlich auf einem Maskenball von seinem besten Freund aus Eifersucht und verletzter Ehre ermordet wird.
Die Oper wurde am 05.12.2009 im Erfurter Opernhaus gegeben. Für die Inszenierung zeichnete Johann Kresnik verantwortlich. Folgende Ingredienzien sind zu erwähnen:
- Während des Vorspiels läuft eine Schar von Mickymausmasken tragenden Nackten über die Bühne, und darüber erscheint eine Leuchtschrift des Inhalts, daß die Bevölkerung der U.S.A. seit dem 11. September 2001 unter dem Konsumismus [sic!] leide.
- Es gibt für alle Akte der Oper eine einzige Kulisse. Sie besteht aus geborstenen und schräg übereinander gestürzten Betonwänden und Autowracks, die teils schief, teils gerade dazwischen stehen oder hängen.
- Die Sänger tragen in der ersten Szene Sauna-Bademäntel, dann auch mal bunte Kostüme und sonst gewöhnliche Kleider des 21. Jh.
- Die Teilnehmer des Maskenballs sind auf verschiedene überwiegend unästhetische Weise verkleidet und schwenken die us-amerikanische Flagge in Wimpelgröße.
- Die ganze Zeit kriechen nackte Statisten vorgerückten Alters in größerer Zahl über die Bühne.
- Ab und zu tanzt eine bis auf Details nackte Balleteuse über die Bühne.
- In unregelmäßigen Abständen regnet es Kleider vom Bühnenhimmel.
- Und zu anderen Gelegenheiten dampft es aus dem Bühnenboden.
Natürlich steht nichts davon im Libretto. All diese Zutaten haben keinen Bezug zu Verdis Oper. Sie sind völlig beliebig und ergeben nicht nur mit der Oper kein stimmiges Ganzes, sondern nicht einmal miteinander. Es sind unmotivierte und belanglose Einfälle, die immerhin das Ziel erreichen, den ästhetischen Genuß zu zerstören. Der ist es allerdings in erster Linie, der Menschen motiviert, in die Oper zu gehen.
Und andererseits sind zahlreiche Dinge, die das Libretto vorsieht, in Erfurt nicht zu sehen. Als Beispiel kann die vorletzte Szene dienen, wo die Gäste des Maskenballs ein Menuett tanzen, darunter der Graf mit seiner Geliebten, die mit ihm vor dem beschaulichen Menuetthintergrund einen dramatischen Austausch hat. Ein typisch verdischer Effekt. Er kommt schlicht nicht vor: Der Scheinwerfer ist auf den Grafen und seine Geliebte gerichtet, die in einer Ecke herumstehen; die Ballgäste tun gar nichts. Und das ist die Schlüsselszene, die der Oper den Namen gibt.
Den Inhalt des Programmheftes kenne ich nicht. Aus ihm oder vom Internet könnte man erfahren, was Herrn Kresniks Ideen zur zeitgenössischen us-amerikanischen Zivilisation sind und – im günstigsten Falle – was er sich mit dieser Inszenierung gedacht hat. Ich bin nicht in die Oper gegangen, um die Gedanken von Herrn Kresnik kennenzulernen, sondern um Verdis Maskenball zu sehen. Ich kann erwarten, daß eine Inszenierung aus sich heraus verständlich ist und daß man nicht, um sie genießen und/oder würdigen zu können, eine schriftliche Erklärung des Regisseurs studieren muß.
Zur Rechtfertigung des Regietheaters wird immer wieder vorgebracht, das Stück müsse aus der historischen Bedingtheit seiner Entstehungszeit befreit und in eine zeitgemäße Form gebracht werden, damit es heutigen Zuschauern noch etwas sage. Dieses Argument ist völlig gegenstandslos. Alles, was Menschen schaffen, ist zeitgebunden. Wir verstehen es gerade unter dieser Voraussetzung. Was der Autor mit seinem Stück wollte, verstehe ich genau dann, wenn ich mich in die Umstände hineinversetze, unter denen es spielt; denn genau unter diesen Umständen gilt die Botschaft des Künstlers. Aufgabe des Regisseurs ist es, diese Umstände zu rekonstruieren, so daß sie sich auch jemand vorstellen kann, dem das dazu nötige Hintergrundwissen fehlt. Das ist ganz zweifellos eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Sie verlangt einerseits sowohl holistisches als auch detailliertes Erfassen der Handlung selbst und ihres historischen und kulturellen Kontextes und andererseits die Fähigkeit, diesen Kontext auf der Bühne so zu evozieren, daß die Einstellungen und Verhaltensweisen der Akteure authentisch und somit nachvollziehbar erscheinen. Ob der Zuschauer, der ein Stück in diesem Sinne versteht, das Verstandene auf seine gegenwärtige Situation überträgt, irgendwelche Analogien zur heutigen Zeit zieht oder das historisch Einmalige ins zeitlos Gültige überhöht, muß ihm völlig überlassen bleiben. In vielen Fällen wird der Dichter oder Komponist das beabsichtigt haben. Dann funktioniert die Kommunikation zwischen ihm und dem Zuschauer genau dann, wenn der Regisseur ihr dient, nicht, wenn er sie durch Dazwischenfunken verunmöglicht.
Die Theaterstücke und Opern, die sich durch das Sieb der Jahrhunderte bis auf die Bühnen der Gegenwart gerettet haben, haben das wegen ihrer Qualität geschafft. Sie sind von Dichtern und Komponisten geschaffen worden, wie es sie in der Geschichte der Menschheit nicht allzu viele gegeben hat. Sie können sich in dem, was sie zu sagen haben und wie sie es in sprachliche und musikalische Form bringen, leicht mit jedem schaffenden oder aufführenden Künstler oder Regisseur der Gegenwart messen. Wenn Regisseure meinen, sie hätten etwas Interessanteres zu sagen oder könnten es besser sagen, ist das eine Selbstüberschätzung, die einen rühren müßte, würde man nicht durch die Ankündigung der Aufführung unter dem Namen des Urhebers in eine üble Falle gelockt, die einen auch noch Geld kostet.
Kresnik wird in der Presse als Skandalregisseur gehandelt und ist in eben dieser Eigenschaft vom Intendanten der Erfurter Oper, Guy Montavon, mit der Inszenierung beauftragt worden. Die Bezeichnung ist viel zu positiv konnotiert, um das treffen zu können, was der Mann abliefert. Das ist jemand, der mit den Stücken, die er aufführen soll, nichts anfangen kann und sich auch nicht für sie interessiert. Was ihn interessiert, ist allein seine verquere Ideologie und seine mehr oder minder abgeschmackten Einfälle. Die bringt er auf die Bühne völlig unabhängig davon, wovon das aufzuführende Stück handelt. Es geht also in Wahrheit überhaupt nicht um die oben erwähnte Zielsetzung des Regietheaters. Sondern es geht darum, daß der Regisseur nicht in der Lage ist, das Stück, so wie vom Autor gedacht, zu verstehen und dem Publikum zu vermitteln, und deshalb stattdessen etwas serviert, was innerhalb seines engen Horizontes verbleibt und ihm deshalb leichter fällt. Vielleicht hat er ein dumpfes Bewußtsein davon, daß sich für die schiere Präsentation seiner eigenen Einfälle kein Publikum fände, und mißbraucht deshalb ein Werk der Weltliteratur, das die Menschen ins Theater zieht, für diese Präsentation.
Fazit: Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. Die Bezeichnung ist also – wie auch in der Diskussion schon verschiedentlich bemerkt wurde – leicht irreführend.