Ein Appellativum ist ein Substantiv, das einen Gegenstand bezeichnen kann dadurch, dass es ihn unter einen Begriff subsumiert. Wenn man z.B. einen Gegenstand als Pampelmuse bezeichnet, gibt man damit zu verstehen, dass er unter diesen Begriff fällt. Ist das Bezeichnete in Wahrheit eine Zitrone, setzt sich der Sprecher Verständigungsschwierigkeiten aus. Man vermutet dann vielleicht, dass er sich geirrt hat oder dass er der Zitrone irgendetwas anhängen wollte.
Dass man jemanden nicht leichthin als Verbrecher bezeichnet, ohne Beweise dafür zu haben, versteht sich von selbst. Und andererseits, wenn man es beweisen kann, spricht wenig dagegen, die Person als das zu bezeichnen, was sie ist, ganz ebenso wie man eine Zitrone als das bezeichnet, was sie ist.
Unter den Weisen solcher Bezeichnung interessieren hier besonders zwei: die spezifische und die unspezifische Referenz. Eine Referenz ist spezifisch genau dann, wenn der Sprecher den gemeinten Gegenstand identifizieren kann. Das kann man wie folgt überprüfen: Angenommen, alle Gegenstände, die unter den Begriff fallen, haben einen Eigennamen. Dann kann der Sprecher den Namen im Prinzip wissen. Im Prinzip, das heißt, es kann sein, dass er ihn zufällig nicht weiß; aber er könnte ihn wissen. Bei Personen ist der Fall klar. Ein Ausdruck wie die Köchin referiert spezifisch, wenn der Sprecher sagen kann, dass er Frau Schulze gemeint hat oder wenn er feststellen könnte, dass die gemeinte Dame so heißt. Das ist z.B. der Fall, wenn der Sprecher sagt: “Ich habe die Köchin gestern getroffen.” Ein solcher Ausdruck referiert unspezifisch, wenn der Sprecher im Prinzip den Gegenstand nicht identifizieren kann und also auch nicht angeben könnte, wie der Gemeinte heißt, selbst dann, wenn alle von dem Appellativum bezeichneten Gegenstände Namen tragen. Wenn der Sprecher z.B. eine versalzene Suppe serviert bekommen hat, wird er vielleicht sagen: “Die Köchin war wohl verliebt.” Er meint damit: Wer auch immer diese Suppe gekocht hat, war verliebt. Damit macht der Sprecher sich nicht anheischig, die gemeinte Person zu identifizieren. Im Gegenteil, es ist möglicherweise allen Beteiligten klar, dass er nicht in der Lage ist und es auch für den Sinn seiner Äußerung nicht zu sein braucht, den Namen der Person zu wissen. Dasselbe gilt für die Referenz auf alle konkreten Gegenstände. In die Pampelmuse ist faul referiert der Ausdruck die Pampelmuse normalerweise spezifisch. In die Pampelmuse ist kein Grundnahrungsmittel referiert der gleiche Ausdruck normalerweise unspezifisch.
Seit etwa 2015 befolgen deutschsprachige Medien – Zeitungen, Nachrichten, die Tagesschau – eine Regel, wonach eine Person erst dann als Täter zu bezeichnen ist, wenn sie rechtskräftig verurteilt ist. Bis dahin ist sie als mutmaßlicher Täter zu bezeichnen.
Dies ist mal wieder eine Zwangsjacke der politischen Korrektheit, der gleich mehrere Irrtümer zugrundeliegen.
Bsp. 1: “Die mutmaßlichen Täter konnten fliehen. Die Polizei musste die mutmaßlichen Opfer sowie deren Bekannte beruhigen.” (Mitteldeutsche Zeitung, 02.05.2019)
Im Bsp. 1 weiß der Schreiber nicht – und möglicherweise überhaupt niemand –, wer die Täter sind. Es liegt also unspezifische Referenz vor. Hier werden Personen als Täter bezeichnet, weil sie unter den Begriff einer Person, die eine kriminelle Handlung verübt hat, fallen. Sie sind folglich Täter; darüber zu mutmaßen, ob sie Täter sind, steht nicht zur Debatte, weil sie gar nicht identifiziert sind. Die Opfer andererseits sind deswegen Opfer, weil sie bei dem Vorfall verletzt worden sind. Das weiß der Schreiber aus verlässlicher Quelle. Es besteht keine Veranlassung, von mutmaßlichen Opfern zu sprechen. Zudem hat die Polizei sicher auch die Personalien der Opfer aufgenommen. Die Referenz ist also spezifisch. Der Schreiber würde also Personen, die er im Prinzip identifizieren kann, den Status des Opfers zuschreiben. Das könnte er ohne Vorbehalte tun, wenn die Umstände so sind wie geschildert. Dass er sie mutmaßliche Opfer nennt, ist eine Herabwürdigung ihrer Opferrolle.
Bsp. 2: “Bei einer mutmaßlich islamistisch motivierten Attacke auf Passanten im Zentrum von Paris sind ein deutscher Tourist getötet und zwei weitere Menschen verletzt worden. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen.” (Tagesschau 03.12.23)
In diesem Fall bestand bereits während der Tat Klarheit über die Identität des Täters. Nach der Festnahme stellte sich heraus, dass er überdies der Polizei bekannt war. Der Ausdruck der mutmaßliche Täter referiert also spezifisch. Da zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel an seiner Täterschaft bestand, sind darüber auch keine Mutmaßungen angebracht. Der Ausdruck ist also nicht durch das motiviert, was gesagt werden soll, sondern ausschließlich durch politische Korrektheit.
Anders liegt der Fall bei der Attacke. Hier mutmaßen die Berichterstatter in der Tat, dass sie islamistisch motiviert war; wissen tun sie das zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht. Die Qualifikation durch mutmaßlich ist hier also angebracht.
Fazit: 1) Ein nicht identifizierter Täter kann nur ein Täter, kein mutmaßlicher Täter sein. In unspezifischer Referenz ist der Ausdruck mutmaßlicher Täter also Blödsinn. 2) Ein identifiziertes Individuum, das evtl. der Täter ist, wird vernünftiger- und gerechterweise als mutmaßlicher Täter bezeichnet. Wenn es aber sicher ist, dass er der Täter ist, ist es sinnlos und irreführend, ihn als mutmaßlichen Täter zu bezeichnen. Um sich der Angebrachtheit einer Bezeichnung sicher zu sein, braucht es keinen richterlichen Beschluss; das ist eine Frage des angemessenen Sprachgebrauchs.