Der Held dieser Geschichte lebte zur Zeit des Protektorats1 Französisch-Marokko. Sein Beruf war die Herstellung von Straßenschildern, die auf Städte hinweisen. Er konnte deshalb fehlerfrei Arabisch lesen und schreiben. Eines Tages erreichte ihn ein Erlass des französischen Protektors, wonach auf den Schildern die Namen der Städte zusätzlich in lateinischer Umschrift zu erscheinen hatten. Nun war unser Schildermacher ein gebildeter Mann. Er konnte etwas Englisch und Spanisch und hatte auch schon gesehen, wie das lateinische Alphabet in anderen afrikanischen Sprachen wie dem Swahili verwendet wurde. Französisch konnte er allerdings nicht. Er setzte sich also mit seiner neuen Aufgabe auseinander und transkribierte probeweise einige marokkanische Toponyme in lateinischer Schrift. Nachdem er alle Zweifelsfälle als geklärt ansah, wollte er sich an die Anfertigung der ersten Schilder machen. Da fiel ihm allerdings seine Frau in den Arm: “Männe”, sagte sie zu ihm, “du weißt, dass die Franzosen gelegentlich eigen sind, was die Schrift betrifft. Vergewissere Dich lieber erst, dass deine Transkription bei der französischen Obrigkeit in Ordnung geht, und lege deine Entwürfe dem französischen Subkommandanten vor.”

Der Schildermacher war gewohnt, auf seine Frau zu hören, packte also seine Entwürfe ein, begab sich damit zum französischen Subkommandanten und legte sie ihm vor. Er sagte: “Wir haben u.a. den Laut /u/. Ich habe gesehen, dass im Spanischen und auch in anderen Sprachen wie dem Swahili dafür der Buchstabe <u> verwendet wird. Unser Wort für ‘Markt’ würde ich also <suk> schreiben. Geht das in Ordnung?”

“Nein nein!” sagte der Subkommandant. “Dieser Buchstabe wird [y] ausgesprochen, und wir würden dein Beispiel folglich als [syk] lesen.”2 “Aha,” sagte der Schildermacher, “aber ein /y/ haben wir nicht. Wie soll ich denn nun unser /u/ schreiben?” “Dafür nimmst du die Buchstabenkombination <ou>, so wie in tout ‘alles’, und schreibst folglich <souk>” sprach der Subkommandant. “Hmhm,” antwortete der Schildermacher, “das habe ich aber noch nirgendwo gesehen.” “Tja,” entgegnete der Subkommandant, “dann ist das eben unser Alleinstellungsmerkmal.”

“Außerdem haben wir den Laut /w/, wie in unserem Wort wed ‘Fluss’ oder dem Städtenamen Essawira. Ich habe gesehen, dass man im Englischen und im Swahili dafür den Buchstaben <w> benutzt. Und auch die Deutschen verwenden, wenn sie Arabisch transkribieren, dafür denselben Buchstaben. Kann ich solche Wörter also damit schreiben?”

“Um Himmels willen!” rief der Subkommandant aus. “Dieser Buchstabe ist eine teutonische Erfindung. In einer gebildeten Sprache hat er keinen Platz.” “Wie soll ich dann also den Laut /w/ schreiben?” “Den schreibst du mit derselben Buchstabenkombination <ou>, wie in oui ‘ja’,” wies ihn der Subkommandant an. “Hm,” meinte der Schildermacher, “das wird aber in keiner anderen Sprache, die ich kenne, so gemacht.” “Das ist irrelevant,” entgegnete der Subkommandant. “Wenn du einer grande nation angehören willst, musst du dich eben unterscheiden.”

Der Schildermacher hoffte, dass es damit genug der Capricen sei, wollte sich aber vergewissern und sagte: “Na gut, dann darf ich dir hier mal einen unserer Ortsnamen zur Probe transkribieren. Unsere Stadt /warzazat/ soll ich, wenn ich dich recht verstehe, so schreiben: <Ouarzazat>?”

Der Subkommandant warf einen Blick darauf und sprach: “Oh nein, so geht das nicht! So wie du das schreibst, würde man es [warzaza] aussprechen. Wenn du die Lautform richtig wiedergeben willst, musst du <Ouarzazate> schreiben.” “Was!” rief der Schildermacher aus, "Wenn ich am Ende ein [t] sprechen will, muss ich am Ende ein <e> schreiben? Ist das dein Ernst?” “Ja selbstverständlich,” sagte der Subkommandant ungerührt, “so ist die Rechtschreibung.” Der Schildermacher hatte eine Erwiderung auf der Zunge; doch – um mit Christian Morgenstern zu sprechen – da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben.

Zu Hause angekommen, zeigte er seiner Frau die Ergebnisse seiner Besprechung mit dem Subkommandanten. “Und das nennt er Orthographie?” rief die Frau. “Es sieht mir eher aus wie Pathographie.” Damit hatte die Frau des Schildermachers den Nagel auf den Kopf getroffen. Tatsächlich hätten sich die Marokkaner in der Frage der Umschrift im lateinischen Alphabet kaum an eine ungeeignetere Adresse als an die Franzosen wenden können. Nur die Engländer haben das lateinische Alphabet noch stärker verhunzt als sie. Wenn sie stattdessen die Spanier gefragt hätten, die sie ja gleichzeitig im Lande hatten, hätten sie den größten Teil der erwähnten Probleme vermieden. Aber da hatten sie wohl nicht die Wahl.

Man muss freilich kein Franzose sein, um Pathographie zu praktizieren. Den Vogel schießt mein (deutschsprachiger) Reiseführer von Marokko (1. Aufl. 2011) ab. Da werden die arabischen Wörter ebenfalls (wenn auch natürlich inkonsistent) nach französischen Konventionen transkribiert. Damit also der deutsche Leser die arabischen Wörter aussprechen kann, werden sie ihm auf Französisch hingeschrieben. Das lässt man dann wohl besser unkommentiert.


1 Die wörtliche Bedeutung des Wortes ist “Schutzgebiet”; tatsächlich gemeint ist ein besetztes Gebiet. Zuvor hatten z.B. die Briten Protektorate in Nigeria, Deutschland hatte gleichzeitig das Protektorat Böhmen und Mähren, und so befanden sich alle drei mit diesem Euphemismus in guter Gesellschaft.

2 Dieser Satz des Subkommandanten ist allen Marokkanern vollständig in Fleisch und Blut übergegangen. Daher sprechen sie, wenn sie weiterer Fremdsprachen wie des Deutschen mächtig sind, auch in diesen den Buchstaben <u> in solchen Wörtern, die sie zuerst aus dem Französischen kennengelernt haben, als [y] aus, wie in [kyl'tyr] “Kultur” oder ihrem Toponym Volubilis ([vo'lybilis]).