Manche Menschen sterben, bevor ihre geistigen Kräfte nachlassen. Bei anderen lassen die geistigen Kräfte nach, lange bevor sie sterben, und manchmal auch, bevor ihre Berufstätigkeit endet. Wenn die eigenen geistigen Kräfte nachlassen, spürt man es normalerweise. Das deutlichste Symptom wird Vergesslichkeit genannt; und das haben die Betroffenen meistens kein Problem, sich einzugestehen und offen zuzugeben.
Aber das Nachlassen der geistigen Kräfte ist umfassender. Man kann sich nicht mehr so leicht lange und produktiv auf etwas konzentrieren. Und man kann nicht mehr klar denken. D.h. man kann einen komplexen Gegenstand nicht mehr vollständig erfassen und erkennen, welche Teile enger zusammengehören und welche Struktur er hat; und folglich kann man ihn nicht mehr systematisch darstellen.
Ob man selber etwas gut genug kann, ist überhaupt kaum objektiv zu beurteilen. Für jede Tätigkeit und jeden Beruf gibt es Menschen, die sie in unterdurchschnittlicher Qualität ausüben. Unter diesen ist es vermutlich die Minderheit, die das selbst erkennt und sich eingesteht. Und es anderen gegenüber zuzugeben, ist schwierig und im Falle der Berufstätigkeit platterdings unmöglich; man würde sich seine Existenzgrundlage entziehen.
Selbst zu erkennen, dass man nicht mehr klar denken kann, ist vermutlich schwerer als zu erkennen, dass man vergesslich(er) geworden ist. Klares Denken setzt ja auch Reflexion auf das eigene Denken voraus. Es kann durchaus sein, dass beim Abbau der geistigen Kräfte gerade diese Fähigkeit von Anfang an betroffen ist. Und selbst wenn man es sich selbst eingestehen kann, ist es offenbar unangenehmer, dies gegenüber anderen zuzugeben, als dass man vergesslich geworden ist. Es ist fast so, als würde man sich selbst für dumm erklären; das würden wohl die wenigsten Menschen – und sicherlich kein Wissenschaftler – im Ernst tun.
Das Nachlassen der geistigen Kräfte passiert Wissenschaftlern ebenso wie anderen Menschen. Aber im Unterschied zu Angehörigen vieler anderer Berufe ist für Wissenschaftler erstens das klare Denken ein sakrosankter Wert, und zweitens sind viele hochgradig motiviert, nach ihrer Zurruhesetzung weiter zu arbeiten. Das, womit sie seinerzeit ihr Geld verdient haben, macht ihnen so viel Spaß, dass sie überhaupt nicht mehr damit aufhören können. Sie forschen und lehren also weiter ohne Rücksicht auf die Frage, ob sie das noch können (auch wenn sie es zuvor gut gekonnt haben).
Es gibt wahrnehmbare Anzeichen dafür, dass die eigenen Leistungen von anderen nicht mehr so geschätzt werden wie ehedem. Man wird weniger eingeladen zu mündlichen Darbietungen wie Konferenzen, Vorträgen, Seminaren usw. Ebenso wird man weniger gebeten, schriftliche Erzeugnisse wie Aufsätze oder Buchkapitel beizusteuern. Man kann dies aber ignorieren; und wenn man es bemerkt, kann man vermeiden, es der nachlassenden Qualität zuzuschreiben. Man kann glauben, es habe mit dem Verlust der beruflichen Stellung zu tun oder damit, dass die Kollegen sich mittlerweile für andere Themen interessieren. Und andererseits hat man ein Sendungsbewusstsein: Die wissenschaftliche Welt hat immer noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, was man Wichtiges zu sagen und immer schon gesagt hat.
Wie auch immer: Unter den zahlreichen Wissenschaftlern, die nach ihrer Zurruhesetzung fortfahren zu forschen und zu schreiben, ist ein gewisser Prozentsatz, dessen geistige Kräfte so weit nachgelassen haben, dass es Zeit wäre aufzuhören. Aus den genannten Gründen hören sie nicht auf. Sie finden auch immer noch gutmütige Kollegen, die das Zeug publizieren (helfen), wenn nicht in erstrangigen Zeitschriften und bei renommierten Verlagen, dann halt an minderem Ort. Diese alten Herrschaften mögen sich zu der Zeit, da sie noch fit waren, den Ruf eines sehr guten Wissenschaftlers erworben haben. Aber die noch gesunden Kollegen stellen fest, dass der Senior in seinen letzten Jahren Dinge verzapft, die nicht mehr Hand noch Fuß haben. Und so beschädigt dieser am Ende seiner Tage sein eigenes Ansehen. Und wenn er sich am Ende doch noch eingestehen muss, dass niemand mehr ihn ernst nimmt, verbittert er. Er schiebt die Schuld der Umwelt zu, weil er nicht akzeptieren kann, dass ihm ein allgemein-menschliches Schicksal widerfährt, eben das Nachlassen der Kräfte, welches eigentlich in keiner Weise ehrenrührig ist.
Es gibt keine etablierten sozialen Mechanismen, um dem entgegenzuwirken. Wer wäre in der Lage, einem anderen zu sagen, dass es besser wäre, aufzuhören? Und zwar mit der Aussicht auf guten Erfolg, so dass der Betroffene nicht nur auf seine alten Tage etwas Nützlicheres tut, sondern auch dem Freund den wohlmeinenden Rat nicht übelnimmt? Aber jeder kann, wenn er sich die Zusammenhänge klar macht, beizeiten dafür sorgen, dass ihm selbst das nicht passiert: Er kann Menschen seines Vertrauens bitten, ihm offen zu sagen, wenn es Zeit ist aufzuhören.