In meiner Jugend war es noch üblich, dass die Professoren - wie schon ihre eigenen Lehrer - sich beklagten, dass sie mit der Flut von Publikationen, die auf ihrem engsten Fachgebiet erschienen, nicht mehr Schritt halten könnten. Sie hatten Mühe, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie auf diesem Gebiet arbeiteten, ohne hinreichend zur Kenntnis nehmen zu können, was andere dazu beitrugen.
Die Klage ist längst obsolet. Jedermann hält es für selbstverständlich, dass wissenschaftliche Publikationen von kaum jemand zur Kenntnis genommen werden. Der einzige, der dazu verpflichtet ist, ist der Rezensent; und selbst der kommt der Pflicht nicht in allen Fällen nach.
Das Problem hat mehrere Facetten:
- Es wird zu viel publiziert. Das liegt nicht nur an der Maxime “publish or perish”. Es liegt auch daran, dass zahlreiche Wissenschaftler nicht willens und in der Lage sind, ein Problem umfassend und gründlich zu bearbeiten, bevor sie ihre Ergebnisse publizieren. Wenn sie einen Geistesblitz haben, publizieren sie ihn und verlängern so ihre Publikationsliste.
- Die Qualitätskontrolle funktioniert nicht. Sie ist seit ein paar Jahrzehnten an das ‘peer reviewing’ delegiert. Dieses leistet einen Beitrag zur Qualität, genügt aber nicht, um sie extensiv und intensiv zu garantieren. Es gibt – gerade auch im Zeitalter der Online-Publikation – eine Fülle von Verlagen und Herausgebern, die auf Qualität keinen Wert legen, sondern mit der Publikation von Ramsch Geld verdienen.
- Selbst in Zeiten des Internets und der Online-Publikation ist es immer noch schwierig, alle zu einem Thema relevanten Publikationen aufzufinden und ihrer auch habhaft zu werden. Dies hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass Autoren ihren Beitrag nicht verstehen als ein Mosaiksteinchen zur Vervollständigung eines umfassenden Bildes, sondern als ein selbständiges, originelles Werk, das (seit dem letzten Drittel des 20 Jh.) vor allem “innovativ” ist, also gerade nicht an bisherige Forschung anschließt. Da sie nicht gehalten sind, den Locus ihres Beitrags präzise zu identifizieren und sein Ergebnis für die Nutzung in einem umfassenderen Gebäude zusammenzufassen, bleibt er isoliert.
- In den Naturwissenschaften bedeutet Fortschritt, dass neue Erkenntnisse auch neue Möglichkeiten eröffnen, die Welt zu kontrollieren. Solche Erkenntnisse markieren in greifbarer Form einen neuen Zustand; frühere Erkenntnisse sind dann “überholt”. In Disziplinen, die nicht der natürlichen Welt gewidmet sind, ist das aber nicht so. Was ein großer Geist vor Hunderten oder Tausenden von Jahren gesagt hat, kann auch heute noch vor Irrwegen bewahren. Aus utilitaristischen Gründen wird dennoch die technische Fortschrittsideologie auf alle Wissenschaften übertragen. Als Konsequenz sind Werke früherer Generationen von Wissenschaftlern von keinem Belang mehr. Man liest nur noch, was in den letzten paar Jahren publiziert wurde.
- Das Problem der Publikationsflut ist auch autoreproduktiv: Ein Autor kennt normalerweise nicht das bisher zum Thema Publizierte. Er kann es nicht kennen, und aus vorgenannten Gründen will er es auch manchmal nicht kennen.1 Folglich sieht er auch nicht, dass das, was er veröffentlichen möchte, längst anderswo gesagt ist. Wenn er und seine Herausgeber und Gutachter das sähen, würden sie auf diese weitere Publikation verzichten und so die Publikationsflut eindämmen.
Es ist wichtig zu sehen, dass die Flut von wissenschaftlichen Publikationen, die nicht zur Kenntnis genommen werden, nicht ein marginales notwendiges Übel ist, sondern dass sie der Hauptgrund ist, warum die Wissenschaft in zahlreichen Disziplinen auf der Stelle tritt. Sie kostet den Staat und somit die Bürger riesige Geldsummen ohne erkennbaren Nutzen. Mehrere Dinge müssen geschehen, um das Problem zu lösen:
- Das Begutachtungssystem muss auf neue Füße gestellt werden. Das System muss gewährleisten, dass nur Texte publiziert werden, die einen identifizierbaren Erkenntnisgewinn beinhalten.
- Die Ergebnisse von Forschung, die aus öffentlichen Mitteln finanziert worden ist, müssen kostenlos der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Da dies im dritten Jahrtausend mit nur minimalem Aufwand verbunden ist, ist dieser dem Autor bzw. Herausgeber zuzumuten. Es ist nicht nötig und aus Sicht des Steuerzahlers unangemessen, dass irgendwelche Instanzen, insbesondere Autoren und Verleger, noch daran verdienen.
- Der Autor muss verpflichtet werden, sein publiziertes Werk, dessen Thema und Ergebnis in eine öffentliche Datenbank einzutragen, in der es nach systematischen Kriterien von jedermann auffindbar ist.
1 2020 reichte ich einen Aufsatz zur Publikation ein, der von einem Thema handelte, welches im Jahre 1905 von Autor A autoritativ und erschöpfend und im Jahre 2007 von Autor B offensichtlich ohne Kenntnis von A (1905) behandelt worden war. Mein Aufsatz sagte dies. B bekam den Aufsatz zur Begutachtung und lehnte die Publikation ab.